Einsatz für rassistisch Verfolgte in der NS-Zeit

Biografische Anmerkungen

Wilhelm Heinrich Hermann Jannasch wurde am 8. April 1888 als Sohn eines Missionars im schlesischen Gnadenfrei – dem heutigen Piława Górna – geboren und wuchs in der 1742 gegründeten Herrnhuter Brüdergemeine ‚Kolonie Gnadenfrei‘ auf. Der pietistische Einfluss seiner Heimatstadt prägte ihn zeitlebens. Im dortigen Seminar begann Jannasch auch seine theologischen Studien, die er in Marburg, Bonn, Berlin und Heidelberg fortsetzte. 1913 wurde er ordiniert. Nach einem kurzem Intermezzo als Hauslehrer im Hause des alldeutschen ‚Flottenbauers‘ Großadmiral Alfred von Tirpitz und einer ersten Hilfspredigerstelle in Jena trat Jannasch im September 1914 in den Pfarrdienst der Lübecker Aegidiengemeinde. Sein Werdegang verlief bis dahin also recht typisch. Früh zeichnete sich Jannasch durch reges wissenschaftliches Interesse aus. Bereits als 20jähriger veröffentlichte er eine Lebensbeschreibung des Kirchenliederdichters Christian Renatus von Zinzendorf, 1914 promovierte er zum Lic. theol. Jannaschs Arbeiten zur Lübecker Reformationsgeschichte gelten noch heute als Standardwerke.

Wie das Gros der evangelischen Geistlichkeit war auch Jannasch stark national orientiert. Im Ersten Weltkrieg drängte der junge Pfarrer mehrfach, als Feldgeistlicher wirken zu dürfen, was ihm 1917 schließlich gewährt wurde. Auch seine Predigten entsprechen dem vorherrschenden nationalprotestantischen Zeitgeist. Den Krieg rechtfertigte er als ein Werk Gottes, die Kriegspolitik des Kaiserreiches unterstützte er vorbehaltlos. Zur Frage der Nächsten- und Feindesliebe predigte er: „Das feindliche Volk getreu unserer gottgegebenen Pflicht bekämpfen bis zum letzten Augenblick des Kampfes, und es doch als Glied der Menschheit, und ob auch ein auf Abwege gekommenes, achten können, das und nichts anderes scheint mir deutsch-christlicher Art würdig zu sein.

Wilhelm (Mitte) mit seinem Bruder Hermann (links), um 1905
| Quelle: A. Schaeffer

In den evangelischen Kreisen führten die Kriegsniederlage und der Zusammenbruch des Kaiserreiches, kurzum die Zertrümmerung und Auflösung der als gottgegeben angesehenen ‚alten Ordnung‘ zu einer existentiellen Verunsicherung. Diese ‚protestantische Traumatisierung‘ verhinderte einen offenen Blick auf die Republik und die Entfaltungsmöglichkeiten, die der demokratische Staat bot. Auch in der kleinen Lübecker Landeskirche stieß die Weimarer Republik mehrheitlich auf Ablehnung. Von dieser Grundstimmung hob sich Jannasch – seit 1922 führte er den Titel eines Hauptpastors – deutlich ab. Im Gegensatz zu den meisten seiner Amtskollegen begegnete er, vom Säkularisierungsdruck und den gesellschaftlichen Modernisierungsschüben durchaus selbst irritiert, der Republik offen und ließ sich auf die Gegebenheiten der pluralen Demokratie ein. So engagierte er sich publizistisch und setzte sich für ein übergemeindliches evangelisches Sonntagsblatt ein, das sich inhaltlich und kulturell von den lutherisch-nationalkonservativen Gemeindeblättern deutlich abhob und sogar eine ernsthafte, wenn auch kritische Auseinandersetzung mit dem Religiösen Sozialismus vorsah. Veröffentlichungen der Zeit belegen eine anhaltend nationale Einstellung, als Vernunftrepublikaner, der er war, verzichtete Jannasch aber sowohl auf die allgemeine kirchliche Verklärung des wilhelminischen Kaiserreiches als auch auf aggressive Wendungen gegen die junge Weimarer Demokratie.

Vor allem aber erteilte er der kirchlichen Öffnung gegenüber der völkischen Bewegung, die auch in Lübeck in kirchlichen Veranstaltungen und Gremien zu beobachten war, eine klare Absage. Den Antisemitismus der Völkischen hielt er für unvereinbar mit dem Christentum, insbesondere deren Forderungen nach einer „Entgiftung“ der christlicher Traditionen und des christlichen Lebens oder deren Ablehnung des Alten Testaments. Zur „deutschkirchlichen Geistesrichtung“, die vor allem in der Luthergemeinde mit ihrem nationalsozialistischen Pfarrer Ulrich Burgstaller auf Resonanz stieß, schrieb er 1931: „Jedenfalls könnte und dürfte ein Sieg der nationalsozialistischen Bewegung die evangelische Kirche niemals veranlassen, vor dem Antisemitismus der Nationalsozialisten zu kapitulieren und ihrer Judenfeindschaft einfach mitzumachen.“


Im NS-Staat: Lübeck 1933-1935

In dieser Haltung blieb Jannasch auch nach der Bildung der Regierung Hitler im Januar 1933, die innerhalb weniger Monate in den nationalsozialistischen Führerstaat führte, konsequent. Offen sprach er sich gegen Antisemitismus und den reichsweiten Boykott der jüdischen Gewerbetreibenden am 1. April aus, der auch in Lübeck begangen wurde. Seine Hauptsorge aber galt der Kirche. Nachdem Jannasch vor den Kirchenwahlen am 23. Juli 1933 im Evangelischen Gemeindeblatt als Alternative zu den Deutschen Christen eine eigene kirchliche Liste angekündigt hatte, wurde er erstmals amtsenthoben. Mit empfindlichen Beschränkungen konnte er seine Amtsgeschäfte erst im Oktober erneut aufnehmen. Am 11. April 1934 wurde Jannasch schließlich „im Interesse des Dienstes“ mit sofortiger Wirkung endgültig in den Ruhestand versetzt. Dieser Vorgang war insofern brisant, da er in bedingter Übereinstimmung zwischen dem Lübecker Kirchenausschuss und dem Lübecker Pfarrernotbund erfolgte. Jannasch, der dem Notbund angehörte, erlebte die folgenschwere Distanzierung als schmerzlich, später sprach er von einem jämmerlichen moralischen Versagen seiner Amtsbrüder.

Trotz seiner Zwangspensionierung sah sich Jannasch weiterhin als rechtmäßiger Pastor seiner Gemeinde und führte die Amtsgeschäfte fort. Als großes Ärgernis erwies sich dabei vor allem, dass er weiterhin Amtshandlungen vornahm, so dass der Kirchenrat im September in beiden großen Lübecker Zeitungen mitteilte, dass diese kirchenoffiziell nicht anerkannt würden. Im März 1935 setzte schließlich die Gestapo Jannaschs Tätigkeit in Lübeck ein Ende. Eine vervielfältigte Gottesdiensteinladung bot den Anlass, ihn festzunehmen und für sieben Tage in Haft zu nehmen. Das folgende Beschäftigungsverbot und die Androhung der erneuten Verhaftung bzw. der Landesverweisung engten Jannaschs Spielraum derart ein, dass er die Hansestadt verlassen musste.


Die Denkschrift der
2. Vorläufigen Kirchenleitung
vom 28. Mai 1936

In den unruhigen und prekären Jahren nach seinem erzwungenen Weggang aus Lübeck arbeitete Jannasch in verschiedenen Positionen, u.a. als Geschäftsführer des Pfarrernotbundes und für die altpreußisch-dahlemitisch geprägte 2. Vorläufige Kirchenleitung der Deutschen Evangelischen Kirche. An der Erstellung von deren Eingabe an Adolf Hitler vom 28. Mai 1936 war er entscheidend beteiligt. Dort wurden ungewöhnlich deutlich und in später kaum mehr erreichter Schärfe die staatliche Unterdrückung der evangelischen Kirche und die „im weitesten Umfang“ betriebene Entchristlichung beklagt sowie das Schlagwort des ‚Positiven Christentums‘ und die nationalsozialistische Weltanschauung mit ihrer Vergötzung von ‚Blut‘, ‚Volkstum‘ und ‚Rasse‘ verworfen. Vor allem aber wurde der NS-Staat selbst kritisiert: die Beschränkungen des Rechtsstaats, staatspolizeiliche Willkür, die Existenz der Konzentrationslager und der staatliche Antisemitismus: „Wenn dem Christen im Rahmen der nationalsozialistischen Weltanschauung ein Antisemitismus aufgedrängt wird, der zum Judenhass verpflichtet, so steht für ihn dagegen das christliche Gebot der Nächstenliebe.“ Am 4. Juni gab Jannasch die Denkschrift persönlich in der Reichskanzlei ab.

Das Werden der Denkschrift, der ein mehrmonatiger Diskussionsprozess vorausgegangen war, ist gut dokumentiert. Zusammen mit weiteren Mitstreitern, die ebenfalls leidvolle Erfahrungen mit dem Nazi-Staat gemacht und berufliche wie persönliche Nachteile erlitten hatten, gehörte Jannasch zu denjenigen, die möglichst deutlich sprechen wollten. In einem Entwurf Jannaschs für eine Kanzelabkündigung, die in diesem Kontext beraten wurde, heißt es:

Vor drei Jahren hat Gott der Herr in Deutschland eine bekennende Kirche zusammengerufen und Ihr die Kraft geschenkt, Sein Evangelium gemäß den Bekenntnissen der Väter wieder die Irrlehre zu verteidigen, die sich damals innerhalb der Kirche erhoben hatte. Heute ist sie zu dem viel schwereren Dienst befohlen, wider den Irrweg der Weltanschauung, zu dem politische Führer uns zwingen wollen, mannhaft ihr Bekenntnis aufzurichten; ihr Nein muß es sagen, daß das gläubige evangelische Volk nicht gewillt ist, dass Evangelium an die Mächte der Zeit preiszugeben, die von außen gegen die Mauern der Kirche stürmen. […] Evangelische Brüder und Schwestern! Ihr habt bisher vielleicht gefürchtet, mit eurem Bekenntnis euch schaden zu können. Ihr habt das Bekenntnis der Bekennenden Kirche als eine enge oder lebensfremde Sache angesehen, die zu eurer Art nicht zu passen schien. Ihr habt gemeint, man könne bei den kirchlichen Kämpfen der Jahre 1933 und 1934 auch als ‚Unparteiischer‘ oder ‚Neutraler‘ ein guter Christ sein. Heut verfängt das als Entschuldigung nicht mehr! Heute sind alle gerufen, die es der Führung des Deutschen Reiches bekennen wollen: es geht auch im künftigen Deutschland nicht ohne den Christengott und sein Wort; es geht nicht ohne Jesus Christus, sein Kreuz und seine Auferstehung! […] Wir wollen mehr als die Zustimmung eurer Herzen in dieser Stunde! Wir wollen das schriftliche Bekenntnis eurer Zugehörigkeit zu uns, euch selbst als ein Halt, unserem Staate und seinen Führern eine Mahnung, mit wessen unbeugsamen Nein er in Sachen des Glaubens und des Gewissens zu rechnen hat.“

Mit seinem Ansinnen, dem NS-Staat Grenzen zu setzen, setzte sich Jannasch nicht durch. Gerade in der Frage, wie sich der Christ in der bedrängenden Realität einer nationalsozialistischen Gesellschaft praktisch zu verhalten habe, blieb die schließlich von Otto Dibelius verfasste Endfassung deutlich hinter den Forderungen Jannaschs zurück. Dabei spielte nicht zuletzt eine Rolle, dass sich die ungewollte Veröffentlichung der Denkschrift im Ausland – am 23. Juli war sie in den Basler Nachrichten im vollen Wortlaut abgedruckt worden – für die vorläufige Kirchenleitung zum Fiasko entwickelte. Dem Landgerichtdirektor a.D. und Büroleiter der VKL Dr. Friedrich Weißler brachte seine Beteiligung an der Denkschrift den Tod. Der Christ jüdischer Herkunft, er war 1933 aus dem Staatsdienst entlassen worden, wurde verhaftet und im Februar 1937 im Konzentrationslager Sachsenhausen buchstäblich zu Tode getreten. Er war das erste Mitglied der Bekennenden Kirche, das im direkten Zusammenhang mit seinem kirchlichen Handeln ermordet wurde. Jannasch hatte wiederholt und eng mit ihm zusammengearbeitet.


Einsatz für verfolgte
‚nichtarische‘ Christen
und Juden

1940 übernahm Jannasch das Pfarramt der aus ihrer Kirche verdrängten BK-Notgemeinde Berlin-Friedenau, eine der wenigen Gemeinden überhaupt, in denen auch nach dem so genannten Sternträger-Erlass vom 1. September 1941 mit dem ‚Judenstern‘ gezeichnete Christen am Gemeindeleben teilnehmen durften. Predigten aus dem Nachlass Jannasch belegen, dass er trotz der Radikalisierung der staatlichen Judenpolitik an der universellen Geltung der Taufe festhielt und die christliche Gemeinschaft gerade mit den Christen jüdischer Herkunft betonte. Hierbei handelte es sich um Kernanliegen, dass er trotz mancher Rückschläge unbeirrt weiterverfolgte. So hatte Jannasch bereits im Dezember 1938 – wenige Wochen nach der Reichspogromnacht – die altpreußische BK-Synode erfolglos zu einer öffentlichen Kundgebung gegen die staatliche Judenverfolgung gedrängt. 1939 hatte er in Dresden entgegen der landeskirchlichen Gesetzeslage – dort war wie in Lübeck die Taufe von Juden zu diesem Zeitpunkt bereits kirchengesetzlich verboten – einen 76jährigen Juden getauft.

Seine Berliner Gemeinde entwickelte sich rasch zu einem „einem Umschlagplatz für geheime Abreden und Hinweise“ und setzte sich für die zunehmend bedrängten Gemeindeglieder ein. Welche Bedeutung die in Friedenau gelebte Solidarität für die Bedrängten letztendlich hatte, lässt sich nur erahnen. Im Fall des Ehepaars Karoline und Max Krakauer, dem Jannasch Nachtasyl gewährte, war seine Parteinahme zweifelsohne ein Baustein zu deren Überleben.

Er selbst berichtete nach Kriegsende wiederholt über die „wichtigsten Hörer des gepredigten Wortes“, denen in Friedenau „volles Heimrecht“ gewährt wurde, aber auch über die Schwierigkeiten in einer feindlichen Umgebung und persönlich bedrückende Erlebnisse wie die Deportation von Gemeindegliedern und Suizide.

Über seinen Besuch bei einer ‚nichtarischen Christin‘ schrieb er: „Der erscheinende Gestapomann, eine Hilfskraft, konnte sich angesichts der Abendmahlvorbereitungen nicht entschließen, diese Christin, wie ihm sein Empfinden sagte, mitzunehmen. So blieb diese Frau damals verschont und hat dann auf abenteuerlichen Wegen das Dritte Reich überlebt.“

1943 engagierte sich Jannasch, obwohl er ein Jahr zuvor nach einer Solidaritätspredigt zum 50. Geburtstag von Martin Niemöller zu einer zweimonatigen Gefängnisstrafe verurteilt worden war, gegen Pläne des Reichsinnenministeriums für eine gesetzliche Zwangsscheidung sogenannter Mischehen zwischen einem ‚arischen‘ und einem ‚nichtarischen‘ Partner. Für den Fall der Umsetzung war eine gemeinsame Kanzelabkündigung der Katholischen Kirche und der protestantischen BK-Gemeinden vorgesehen. Auch wegen diesen Überlegungen wurden die Pläne ad acta gelegt. Zu dem Vorgang, über den wenig bekannt ist, heißt es: „[…] fuhr Pfarrer Jannasch als Kurier des Berliner katholischen Bischofs, Graf Preysing, heimlich nach Breslau, zum Kardinal Bertram, dem derzeitigen Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, um mit ihm im Sinne Preysings ein gemeinsames Vorgehen beider Kirchen zu verabreden […].“ Dies legt nahe, dass es gute Kontakte und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit hochrangigen Vertretern der Katholischen Kirche gab.

Aus gutem Grund wissen wir heute vieles nicht mehr oder nur ansatzweise. Auch Jannasch äußerte sich nach Kriegsende nur vage. Als gesichert kann gelten: Jannasch war in die kirchlichen und Berliner Hilfswerke zur Rettung von rassistisch Verfolgten aktiv und an prominenter Stelle eingebunden. Dabei ging er ein hohes persönliches Risiko ein. Aus seinem Umfeld bezahlten einige wie z.B. Martin Albertz oder Martin Niemöller ihr Handeln mit Gefängnis oder Konzentrationslager, andere sogar mit ihrem Leben. Der wohl Bekannteste ist Dietrich Bonhoeffer, der die Predigten Jannaschs in Friedenau des Öfteren besucht hatte.


Die Nachkriegszeit

Das Kriegsende erlebte Jannasch in der zerstörten Reichshauptstadt, beide Söhne waren gefallen. In seiner Haltung blieb er sich treu. Als Mitglied der Provinzial-Kirchenleitung Berlin-Brandenburg erhob er scharfen Protest gegen Missstände in der sowjetischen Besatzungszone und die Behinderung der kirchlichen Arbeit. Im April 1946 erhielt er schließlich auf Vermittlung von Martin Niemöller einen Ruf an die Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Dort wirkte er als Gründungsdekan und Professor für Praktische Theologie, bis er im Oktober 1956 emeritiert wurde. Den großen innerprotestantischen Debatten der 1950er und 1960er Jahre enthielt er sich weitgehend, seine Wirkungsfelder waren die Kirche und die Wissenschaft. 1962 erhielt er für seine Haltung in der Zeit des ‚Kirchenkampfes‘ und seine Verdienste beim Aufbau der Mainzer Fakultät das Große Bundesverdienstkreuz.

Seine Berufung nach Mainz beendete auch Jannaschs Bemühungen um eine Rückkehr an seine alte Pfarrstelle. Hier befand sich die Landeskirche in einem Dilemma. Obwohl sein Anspruch, rechtmäßiger Pfarrer der Landeskirche zu sein, kaum zu bestreiten war, waren die persönlichen und kirchlichen Gräben zu tief, als dass eine Rückkehr Jannaschs ernsthaft in Erwägung gezogen werden konnte. Nachdem Propst Johannes Pautke, ab 1948 erster Lübecker Nachkriegsbischof, Jannasch bereits zum Verzicht auf sein Lübecker Pfarramt aufgefordert hatte, einigte man sich im Oktober letztendlich auf einen Vergleich, der neben finanziellen Fragen auch die nachträgliche Bestätigung der angeblich ‚illegal‘ getätigten Amtshandlungen Jannaschs regelte. Zu einer versöhnenden Aussprache kam es nicht, vielmehr legt ein Briefwechsel zwischen Jannasch und Pautke aus dem Jahr 1946 ihre grundlegenden Differenzen nochmals offen.


Die Bilanz

Wilhelm Jannasch starb am 6. Juni 1966 in Frankfurt. In der Forschungsliteratur zur Geschichte der evangelischen Kirche in der Zeit der Nationalsozialismus findet er immer wieder Erwähnung, eine Biografie, vielfach angemahnt, gibt es bisher nicht. An seiner alten Lübecker Wirkungsstätte ist sein Bild noch immer stark von Karl Friedrich Reimers und Wolf-Dieter Hauschild geprägt, die stark auf die lokalen kirchenpolitischen und persönlichen Differenzen abhoben. Das Wort von Jannaschs ‚dahlemitischer Unerbittlichkeit‘ wirkt nach: Es wird dem sperrigen Hauptpastor nicht gerecht.

Jannasch war ambitioniert, ein scharfsinniger, theologisch wie kirchenhistorisch gebildeter Intellektueller. Zentrale Elemente seiner Theologie, die Autorität der Heiligen Schrift, die alleinige Erlösung des Menschen durch Jesus Christus, auch die Betonung der Gemeinschaft von Theologen und Laien waren in seinen Herrnhuter Umfeld bereits angelegt. Aufgrund dieser Einsichten erkannte er den völkischen Rassismus und Antisemitismus früh als eine Gefahr für Kirche und Christentum. Mit der auf Jesus Christis gebauten Kirche war der nationalsozialistische Rassenstaat unvereinbar: Das Heil, so Jannasch, liege in Jesus Christus, nicht in Adolf Hitler. In dieser Situation gab es kein taktisches Lavieren oder gar ein Paktieren; vielmehr drängte diese Entweder-Oder-Haltung zu einer klaren Entscheidung, die Jannasch konsequenterweise in Opposition zum NS-Staat führte. Dieser Entscheidung blieb der mehrfache Familienvater trotz großer persönlicher Opfer treu, konsequent und mit hohem persönlichem Risiko. Er war mehrfach inhaftiert und in seinem beruflichen Werdegang massiv eingeschränkt.

Die Schnittstelle zwischen dem staatlichen und kirchlichen Bereich bildeten die Christen jüdischer Herkunft, deren Schicksal für die Kirchen eine entscheidende Prüfung war. Jannaschs theologischen Einsichten und seine humanistische Grundhaltung führten ihn zu einem solidarischen Handeln mit den „verlassenen Kindern der Kirche“ (Ursula Büttner): Er unterstützte sie emotional und seelsorgerisch, materiell und pragmatisch, und dies, obwohl er gerade in dieser Frage der eigenen Bedrohung durch den NS-Staat illusionslos gegenüberstand. Nicht zuletzt dieses vergessene und viel zu wenig gewürdigte Engagement macht den streitbaren Lübecker Hauptpastor zu einer der herausragenden Persönlichkeiten des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert.

Hansjörg Buss

Mit freundlicher Genehmigung des Matthiesen Verlags

Artikel erschienen in
„Auf den zweiten Blick“
Frauen und Männer der Nordkirche vom Mittelalter bis zur Gegenwart
Hrsg. von Ruth Albrecht, Rainer Hering und Claudia Tietz
Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, Band 61
448 Seiten, br., Format 15,5 x 23,5 cm
ISBN 978-3-7868-5510-1
www.verlagsgruppe.de


Zur Verbesserung der Lesbarkeit wurde auf die Fußnoten des Originaltextes verzichtet.